So stammt u.a. auch die anthropologische Erstbeschreibung unserer wertvollsten Sammlungsobjekte, der jungpaläolithischen menschlichen
Skelettreste von Lautsch (Südmähren, s. Osteologische Sammlung) aus der Feder Szombathys.
Die Erkenntnisse in der Vererbungslehre nach der Jahrhundertwende hatten einen Paradigmenwechsel in der Anthropologie zur
Folge, d.h. es erfolgte ein Wandel von einer metrisch-morphologisch ausgerichteten hin zu einer eher biologisch-vererbungswissenschaftlich
orientierten Anthropologie. Am Naturhistorischen Museum Wien konzentriert sich die anthropologische Forschung nunmehr vermehrt
auch auf die systematische Erhebung und Beschreibung physischer Merkmale am Lebenden („Feldforschung"), auf die sogenannte
Bevölkerungsbiologie, insbesondere zwischen 1920 und 1935.
Diese Analysen wurden vor allem als Beitrag zu ethnohistorischen Fragestellungen verstanden. Repräsentativ für diese Forschungsschwerpunkt-Verlagerung
ist der damalige Leiter der Abteilung, Viktor Lebzelter, der an europäischen und außereuropäischen Bevölkerungen, z.B. in
Südafrika, anthropologische, ethnologische und linguistische Untersuchungen vornahm; Resultate dieser Untersuchungen fließen
nun auch in immer stärkerem Maße in Ausstellungsprojekte bzw. „Bildungs-Vorhaben" ein. 1930 wurde der „Saal der Menschheit"
eröffnet; wenige Jahre später, 1936, ein sogenanntes „rassenbiologisches Museum" eingerichtet, worin sich bereits der Einfluss
der sich entwickelnden nationalsozialistischen Rassenideologie andeutet.
In der Zeit von 1938-45 stand J. Wastl zunächst als Leiter, später als Direktor der Abteilung vor. Die von ihm und seinen
Mitarbeitern vorgenommenen Sammlungsakquisitionen und seine Rolle als Initiator zahlreicher Projekte von anthropologischen
Untersuchungen am Lebenden (Erhebungen in Kriegsgefangenenlagern, an internierten und später deportierten Angehörigen der
jüdischen Glaubensgemeinschaft), sowie die Aktivitäten im Öffentlichkeitsbereich des Museums, welche die politische Instrumentalisierung
des Faches und eine affirmative Rolle der Kuratoren belegen, sind zur Zeit Gegenstand zweier aktueller interdisziplinärer
Projekte (siehe Senatsbericht, CD-ROM).
Auch die jüngere Geschichte, d.h. die Fachentwicklung nach dem 2. Weltkrieg, die von den Direktoren R. Routil, W. Ehgartner,
J. Jungwirth und J. Szilvassy geprägt wurde, ist bis dato unzureichend wissenschaftshistorisch analysiert, wiewohl wir die
Fortsetzung des traditionell-musealen, auf Fragen der prähistorischen Anthropologie konzentrierten Forschungsinteresses konstatieren
können.
Die letzten Jahre sind geprägt von innovativen methodischen Neuerungen und Fragen der Standortbestimmung, wobei von namhaften
Fachvertretern eine fundamentale Verschiebung der Blickrichtung gefordert wird. Nach Kattmann (1992) und Herrmann (1998) müssen
in einer Neuen Anthropologie sowohl biologische als auch gesellschaftswissenschaftliche Aspekte verknüpfbar sein, da das komplexe
Konstrukt „Mensch" als biologisches und kulturelles Wesen nicht partikularistisch behandelt werden kann.